Kommentar / Kontext / Wirkungsgeschichte:
Claus Lutz Gaedicke gehört zu den nach 1970 in größerer Zahl auftretenden Plastikern, die wieder im vollen Sinne des Wortes Bildhauer sind, den Stein als Material bevorzugen. Seine Plastik, die ein Wort des chilenischen Dichters Pablo Neruda ins figürliche Bild umsetzt, erinnert gewiß nicht ohne Absicht an Michelangelos unvollendet aus dem Stein geschlagene Sklavengestalten, läßt auch an dessen Pietà Rondanini denken. Aber wo dort Halten und Sinken vorherrschen, verbindet sich in Gaedickes Werk das Gehaltenwerden und Stützen mit dem in der Figur verkörperten Willen zum Sichaufrichten. Dabei verzichtet Gaedicke auf die zweite, brüderliche Gestalt. Sie ist allein gegenwärtig in der fast wie als Bosse stehengebliebene, auf der Brust des männlichen Aktes liegende Hand des unsichtbar Hilfreichen; eine sinnbildliche Geste, wie überhaupt Gaedickes Plastik jede Form zum sinnbildhaften Gestus gerät: die energiespeichernd geballte Faust, der stützende, den Körper hochdrückende Arm, der dem Licht entgegenblickende, noch wie geblendet erscheinende, zurückgelegte Kopf.
Hütt, Hannes; Künstler in Halle, Berlin 1977
... Vollkommenheit ist ein Ziel, über das man nicht mehr hinauskam - und das Schöpferische liegt auf dem Wege dorthin. Daher reizen unvollkommene Dinge die Phantasie und fordern damit neue Schöpferkraft heraus. So werden z.B. bei der Steinskuptur oft bewußt die Spuren der verschiedenen Arbeitsgänge stehengelassen, weil dadurch "in reinster Form etwa von der Spannung des Schaffenden, von seiner Emotionalität und der Dynamik des Prozesses in der Skulptur bewahrt bleibt." wie es Gaedicke formulierte. Dabei muß sich die Idee dem Format des Steines anpassen. Sie kann nicht in freier Phantasie entwickelt werden, sondern die Form muß in den vorhandenen Block hineingedacht werden und dann in harter körperlicher Arbeit mit Hilfe des Bildhauereisens herausgelöst werden. Meist ist die Form des Blocks an der Skulptur noch ablesbar. Mit Michelangelos "Sklaven", die nicht fertig ausgeführt wurden, deren Körper noch zum Teil im Stein eingeschlossen zu sein scheinen, beginnt die Tradition der unfertig gelassenen Figuren, des "non-finito".
Hüneke, Andreas; Genügt uns die Venus? Berlin, 1977